Da mache ich als Wessi mal den Anfang, indem ich die „zwei Seiten einer Medaille“ aufzeige:
Für mich war der Mauerfall ein (freuden-)tränenreiches Ereignis, denn es bedeutete, dass ich meine Cousine in Magdeburg nicht länger nur ab und zu „illegal“, sondern fürderhin jederzeit problemlos würde besuchen dürfen. Es war außerem u. a. ein Anlass zur Vorfreude auf stundenlange gemeinsame Bibliothekenbesuche mit meiner Cousine während ihrer Besuche bei uns, denn dass sie nicht alle Bücher und Zeitschriften bekommen konnte und lesen durfte, die sie sich wünschte, war für sie, neben den Reisebeschränkungen, mit der größte Verzicht, mit dem sie sich beim Leben in der DDR hatte abfinden müssen.
Doch nicht alle Tränen waren Freudentränen, wie schon in den Tagen vor dem Mauerfall. Tränen des vorauseilenden Mitleids flossen, vor dem Fernseher sitzend, bereits angesichts des Jubels der Menschen in den Autoschlangen, die die Botschaft in Prag hatten verlassen dürfen, wie dann auch derer, für die der Weg durch die Mauer unverhofft offen war.
So sehr ich mich mit ihnen über das Mehr an Freiheit freute, war mir doch klar, dass bei vielen von ihnen der Freude des Augenblicks sehr bittere Enttäuschungen folgen würden - z. B. bei denen, die aufgrund ihres Alters kaum noch Arbeit finden würden; bei Anderen, die den Westen vielleicht in einem allzu rosigen Licht gesehen hatten und bald feststellen würden, dass dort längst nicht alles Gold war, was aus der Ferne zu glänzen schien; und dass Einige grundsätzlich die Erfahrung machen würden, Nachteile hinter sich gelassen und neue dafür eingetauscht zu haben.
Dass auch mir eine Ernüchterung bevorstand, habe ich damals noch nicht geahnt. Hätte mir jemand prophezeit, dass eine Angleichung der unterschiedlichen Mentaliäten in den beiden Teilen Deutschlands (derer ich mir aufgrund meiner verwandtschaftlichen Beziehungen natürlich durchaus bewusst war) nicht nur Jahre, sondern Generationen dauern werde … ich hätte das mit Sicherheit als unzulässigen Pessimismus oder gar Fatalismus abgetan.
Ungeachtet des Bewusstseins der Mammutaufgabe, der sich die Politik, schon aufgrund der maroden Industrie und Infrastruktur in Ostdutschland, nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die Angleichung der Verwaltungsstrukturen zu stellen hatte, habe ich mir, ehrlich gesagt, keine Gedanken darüber gemacht, in welcher Form diese Aufgabe wohl am besten zu bewältigen sein würde.
Den tatsächlichen Ablauf zu verfolgen, konnte mich somit dann nur noch mit Zorn und Scham erfüllen. Und hat mir zwei unbeschreiblich arbeitsintensive und nervenaufreibende Jahre dadurch eingebracht, dass ich versucht habe, wenigstens in dem mir möglichen minimalen Umfang Gegenzeichen dafür zu setzen, dass nicht alle Westdeutschen egoistische Profitgeier sind.
Was ich mir heute am meisten wünsche, ist, dass endlich auch die letzten Mauern in den Köpfen auf beiden Seiten fallen.