Sterbehilfe VII - Nach dem Sterbehilfe-Urteil des BVerfG: Spahn lehnt Anträge auf Sterbehilfe weiter ab!

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Heiris letzte Reise:

Aus: Appenzeller Zeitung (Print)

Ausgabe vom: Samstag, 22.August 2020

Ein 68-jähriger Thurgauer möchte sterben. Nach jahrelangen körperlichen Leiden und tiefer Depression wendet er sich an die Sterbehilfeorganisation Exit. Seine Nichte ist am Tag seines Todes bei ihm und erzählt, wie dieser letzte Morgen in seinem Leben abgelaufen ist.

Stephanie Martina

Es ist ein Tag im Januar 2020. 7 Uhr. Draussen ist es noch dunkel. Drinnen sitzen vier Personen am Wohnzimmertisch und trinken Kaffee. Die Stimmung ist bedrückt, alle sind traurig. Nur Heiri* wirkt freudig erregt, in Aufbruchsstimmung, wie manche vor den Ferien. Gewissermassen geht er auch auf eine Reise - seine letzte. Der 68-jährige Thurgauer möchte sterben. Und heute ist es so weit. In einer Stunde kommen die Sterbehelfer von Exit, um ihn von seinen körperlichen und psychischen Leiden zu erlösen.

Um nicht allein zu sein, wenn er diese Welt verlässt, hat er seine Bezugspersonen gebeten, dabei zu sein: seine Ex-Frau, seinen Göttibuben und seine Nichte Claudia*. Die 32-jährige Thurgauerin erzählt, er habe seinen Sterbewunsch erstmals im letzten Herbst geäussert. «Er rief mich an und fragte, ob ich als Rettungssanitäterin und Anästhesiepflegefachfrau wisse, welches die beste Suizidvariante sei und ob ich ihm ein tödliches Medikament besorgen könne.» Sie habe ihm gesagt, dass sie ihm nicht dabei helfe, sich das Leben zu nehmen, habe aber damals schon an die Sterbehilfeorganisation Exit gedacht. Wenige Wochen später habe auch er von sich aus davon gesprochen und eine Mitgliedschaft beantragt.

Zigarette statt Zmorge

Frühstücken möchte Heiri an diesem Morgen, während er auf die Sterbehelfer wartet, nicht, aber eine rauchen. Heiri hat schon immer viel geraucht und getrunken. «Der geniesst sein Leben», sagten die Leute früher. Früher, als er eine glückliche Ehe führte, seine Arztpraxis florierte, er viel arbeitete, viel Geld verdiente und die Welt bereiste. Vor zehn Jahren dann die erste einschneidende Lebensveränderung, die er bis zu seinem Tod nicht überwinden sollte: die Scheidung von seiner Frau, mit der er 40 Jahre lang verheiratet war.

Wenige Jahre später entschloss er, kurz vor der Pension, seine Praxis zu verkaufen. Plötzlich wieder im Angestelltenverhältnis zu arbeiten, sich an Vorgaben zu halten und zu sehen, wie sich die Patienten von der Praxis abwandten, war für ihn, den stolzen Arzt, eine Qual. Er rutschte in eine tiefe Depression. «Gegen eine Therapie wehrte er sich mit Händen und Füssen, von Psychologen hielt er noch nie viel», erzählt seine Nichte Claudia.

Der Anfang des körperlichen Zerfalls

Einige Zeit später hatte er einen schweren Verkehrsunfall, bei dem seine Halswirbelsäule verletzt wurde. Als Folge davon war er halbseitig beinahe gelähmt und konnte kaum noch gehen. Doch Hilfe annehmen, das wollte er nicht - wollte er nie. Claudia sagt: «Er lebte nach dem Motto: Ich bin Arzt, ich kann mir selber helfen. Doch gerade als Arzt hätte er gewusst, dass mit der richtigen Behandlung vieles möglich gewesen wäre.» Die Einschränkungen nach diesem Unfall waren der Anfang seines körperlichen Zerfalls, der im Laufe der Jahre so weit fortschritt, dass er sich die Haare nicht mehr schneiden liess und kaum noch ass. Nur sein Garten bereitete ihm Freude. Bis zum Schluss pflegte er ihn - so gut wie möglich. «In jener Zeit sprang seine Ex-Frau in die Bresche, um zu helfen und ihm etwas Gesellschaft zu leisten. Sie redeten viel über die verflossenen Jahre. Dafür war er dankbar», erinnert sich Claudia. Abgesehen von diesen wenigen sozialen Kontakten litt Heiri an Einsamkeit. «Er war kein einfacher Mensch. Er dachte in Schwarz und Weiss. Wenn ihm jemand nicht passte, liess er es diese Person spüren», sagt Claudia. Viele - auch aus der Familie - hätten ihn deshalb gemieden. Sie habe jedoch immer ein gutes Verhältnis zu ihm gehabt. Vermutlich, weil sie als einzige in der Familie eine medizinische Laufbahn eingeschlagen habe. Dass sie am Ende zu einer Bezugsperson geworden sei, liege wohl an ihrem Beruf und daran, dass sie sich während all der Jahre regelmässig erkundigt habe, wie es ihm gehe.

Inzwischen ist es 8 Uhr. Die Sterbebegleiter von Exit klingeln an der Tür. Kurz darauf sitzen alle im Wohnzimmer. An jedem Möbel, an jedem Teppich und Bild, am Fernseher und an jedem anderen Gegenstand klebt ein Post-it-Zettel. Darauf steht, wer was erben soll. Heiri hat sich gut vorbereitet. Ein Exit-Mitarbeiter, der Heiri schon seit Wochen begleitet, erklärt den Ablauf. Er sagt, was der Reihe nach passieren wird, aber den Zeitpunkt, wann es losgehe, bestimme ganz alleine Heiri, betont er.

Als Erstes muss jedoch ein Psychiater per Telefon die Urteilsfähigkeit von Heiri bestätigen. «Ich war erleichtert, dass er an diesem Morgen so nüchtern war, wie ich ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sein Göttibub und seine Ex-Frau waren am Tag zuvor noch bei ihm gewesen, hatten mit ihm geplaudert und den Alkohol mitgenommen. Alles ausser zwei Flaschen Rotwein für die Nacht», erinnert sich Claudia.

Eine allerletzte Zigarette im Garten

Während des Prozesses mit Exit stand Heiri seine Alkoholsucht schon einmal im Weg. Damals war es für einen Psychiater unmöglich, ein Gutachten zu erstellen und seine Urteilsfähigkeit zu bestätigen, weil Heiri betrunken war. «Als er mich daraufhin anrief, um zu sagen, dass er einen Seich gemacht habe, fragte ich ihn das erste und einzige Mal, ob er sich wirklich sicher sei, dass er sterben wolle. Ich dachte mir: Wenn man etwas so sehr will, steht man sich doch nicht noch selbst im Weg», sagt Claudia und fügt an: «Er sagte ja.» Sonst habe sie nie versucht, ihm von seinem Vorhaben abzuraten. «Für mich war seine Todessehnsucht absolut nachvollziehbar.» Er sei nie ein Luftibus gewesen, und die Vehemenz, mit der er übers Thema Suizid sprach, liess keine Zweifel offen, dass er entschlossen war. Ausserdem habe sie gewusst, dass es ihm körperlich nie mehr besser gehen werde.

An diesem Januarmorgen kann Heiri den Psychiater und die Sterbehelfer von seiner Urteilsfähigkeit überzeugen. Die letzte Hürde ist genommen, ab jetzt bestimmt er den Rhythmus. Er wolle im Garten noch eine Zigarette rauchen, sagt Heiri und bittet um seine Jacke. «An diesem Tag habe ich immer wieder gedacht: Er tut das alles zum letzten Mal: Kaffee trinken, rauchen, eine Jacke anziehen, in den Garten gehen», sagt Claudia. Sie sei sich sicher, dass auch ihre Tante und der Göttibub daran gedacht hätten, aber niemand habe etwas gesagt. Stattdessen hätten alle versucht, ihm jeden Wunsch von den Lippen abzulesen und ihm die letzten Momente so angenehm wie möglich zu gestalten.

Einige Minuten später kommt Heiri zurück ins Wohnzimmer, stellt seine Tasse auf den Tisch und hängt seine Jacke über einen Stuhl. Er schaltet sein Handy aus und sagt: «Gömer ufe.» Dass er es so kurz und bündig hielt, erstaunte Claudia. «Ich dachte, er möchte noch dies und das machen. Aber er ging direkt die Treppe hoch.»

Er legt sich ins Bett. Claudia, sein Göttibub und seine Ex-Frau sitzen auf der Bettkante. Die Exit-Sterbehelfer stecken die Infusion. Zunächst fliesst Kochsalzlösung in seine Vene, bis der eine Sterbebegleiter Heiri bittet, mit der Rollklemme in seiner Hand die Infusion zu stoppen. Der Mann erklärt Heiri nochmals, wie es ablaufen wird. Das letale Medikament werde nun in den Infusionsbeutel gespritzt. Sobald er die Rollklemme wieder öffne, gebe es keine Möglichkeit mehr, ihn zurückzuholen, und es gebe auch keinen Zweifel daran, dass er sterben würde. Dass der Sterbewillige den letzten Schritt - das Öffnen der Rollklemme oder das Trinken des in Wasser aufgelösten Medikaments - selber vornimmt, ist Bedingung für jede Freitodbegleitung.

Keine Millisekunde gezögert

Noch immer könnte Heiri sagen, dass er doch weiterleben möchte, dass er sich umentschieden habe und die Infusion entfernt werden solle. Doch er nickt. Kaum haben die Sterbehelfer die tödliche Mischung in den Beutel gegeben, fragt Heiri: «Kann ich jetzt den Hahn öffnen?» «Ja», antwortet der Sterbehelfer - und in diesem Moment öffnet Heiri die Rollklemme sofort. «Er hat keine Millisekunde gezögert», sagt Claudia. Sie sei geschockt gewesen. Er habe sie nicht einmal mehr angeschaut, nur gesagt: «Mir wird schön warm.» Dann sei er einfach gegangen.

Monatelang habe sie die Situation zuvor belastet, doch sie habe nie geweint, erzählt Claudia. In diesem Augenblick seien aber alle Dämme gebrochen. Das habe sie selbst überrascht. Sie habe genau gewusst, was an diesem Tag auf sie zukomme. Doch die Realität habe ihr sehr zu schaffen gemacht. Inzwischen sagt sie: «Eigentlich ist es schön, dass er ohne zu zögern den Hahn geöffnet hat. Das zeigt, wie sicher er sich war - und wie lebensmüde.» Sie sei froh, dass er mit Exit einen gangbaren Weg gefunden habe.

Die Sterbehelfer verlassen das Zimmer. Sie betonen, dass nichts verändert werden dürfe. Auch Heiris Hand müsse an der Rollklemme bleiben, damit ersichtlich sei, dass er sie selbst geöffnet habe. Claudia und die beiden anderen Angehörigen bleiben noch ein paar Minuten bei ihm, um sich zu verabschieden. Danach kehren sie ins Wohnzimmer zurück. Gleissend helles Licht fällt durch das Fenster. Rückblickend sagt Claudia: «Es war surreal. Nur gerade mal 15 Minuten waren vergangen, seit wir nach oben gegangen waren. Doch innert dieser kurzen Zeit ist es Tag geworden.»

Polizei, Amtsarzt und Bestatter kommen

Ein wunderschöner Wintermorgen, klar und ohne Nebel. Irgendwie tröstlich, findet Claudia. Sie denkt darüber nach, dass Heiri endlich von seinen körperlichen und seelischen Leiden erlöst ist. Obwohl sie dankbar ist, muss sie ihre Tränen zurückhalten. Noch vor wenigen Minuten waren sie hier im Wohnzimmer - mit Heiri. Jetzt hängt seine Jacke über dem Stuhl. Er wird sie nie mehr tragen. Die leere Kaffeetasse steht auf dem Tisch. «Alles war, wie er es kurz zuvor verlassen hatte. Und jetzt liegt er oben tot im Bett. Es ging viel zu schnell, um zu realisieren, was gerade geschehen ist», sagt Claudia.

Weil es sich bei einem Freitod rechtlich um einen aussergewöhnlichen Todesfall handelt, muss die Polizei einbezogen werden, ebenso ein Amtsarzt. Es dauert etwa zwei Stunden, bis der Bestatter Heiri ins Krematorium überführen kann. Er wollte nicht, dass seine Asche in einem Grab beigesetzt wird, sie sollte verstreut werden. Claudia kann diese Entscheidung verstehen: «Ich glaube, er wollte einfach alle Zelte auf dieser Welt abbrechen.»

  • Namen der Redaktion bekannt.

— Hier geht’s weiter: Sterbehilfe VIII - Auf dem Weg zur BTW 2021

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